Am frühen Donnerstag-Nachmittag brennt beim Masters in Augusta die Sonne Georgias unerbittlich auf die Köpfe der Zuschauer herunter, die seit Stunden am Amen Corner, dem neuralgischen Eck am Grün von Bahn 11 und dem kurzen Par 3 Nummer 12 Platz genommen haben …
Während die ersten neun Gruppen des Tages hier vorbeikommen, herrscht ein lockeres Kommen und Gehen auf der Tribüne an diesem Hotspot des Augusta National.
Doch nachdem der zehnte Flight des Tages mit dem höflichen Applaus der Zuschauer bedacht wurde, kommt plötzlich merklich Leben in die Bude.
Jeder weiß, Tiger spielt in der zwölften Paarung an der Seite des Norwegers Viktor Hovland und Xander Schauffele, dem Amerikaner mit deutschen Wurzeln.
Im Handumdrehen füllt sich das Areal und auch der Zustrom auf die Tribünen nimmt merklich zu. Selbst in der obersten Reihe, die für Mitglieder, deren Gäste und die Presse reserviert ist und die bislang (bis auf die beiden lustigen Journalisten aus Bayern) kaum belegt wurde, entsteht plötzlich ungewohntes Gedränge.
Ein erstaunlich kleiner Fotoreporter, der mit zwei absurd großen Kamerarohren bewaffnet ist, benutzt meinen Kopf völlig ungeniert als Stütze für sein riesiges Teleobjektiv.
Die Massen befindet sich in kollektiver Unruhe. Die Blicke huschen nervös nach links, obwohl Gruppe Nr. 11 doch gerade das ikonische Par 3 in Angriff nimmt.
In diesem Moment jedoch weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ich fühle mich spontan an den letzten Zoobesuch mit der Familie erinnert, als irgendwo in einem riesigen Raubtiergehege ein Tiger zu finden gewesen sein sollte, der versteckt im hintersten Winkel der Anlage döste.
Wer entdeckt ihn wohl als Erster?
Plötzlich verfehlt ein Ball das Grün um wenigstens 30 Meter und kommt in der Nähe des 12. Abschlags zum Liegen.
Tiger Woods: Freude und Wehmut …
Vielleicht die mieseste Annäherung, die an diesem Vormittag auf dem Par 4 gespielt worden war, doch der Foto-Kollege murmelt ehrfürchtig: „That‘s Tigers Ball…“ und massiert mir mit seinem Objektivrohr weiterhin den Scheitel.
Pech für ihn, denn genauso wie alle anderen hält auch mich nichts mehr auf meinem Platz, wenn die Lichtgestalt die Bühne betritt.
Während eine Woge, zu gleichen Teilen aus Wehmut, Liebe und Begeisterung bestehend, über die Anlage brandet, schleppt sich der fünffache Champion mit starrem Blick zu seinem Ball. Nein, rund sieht sein Gang beileibe nicht aus.
Wer die teils krassen Höhenunterschiede des Augusta National mit eigenen Augen erblicken durfte, der weiß, dass auch fitte Golfer nach 18 Bahnen spüren, was sie an diesem Tag geleistet haben.
Woods Chip in Richtung Grün bleibt im Bunker hängen, der Schlag aus dem Sand ist etwas unsauber doch immerhin rettet Tiger noch das Bogey.
Die Zuschauer klatschen sich trotzdem in Ekstase, während ihr Held emotionslos zum nächsten Abschlag trottet, an dem er ein reichlich gewöhnliches Par spielt.
Ein letztes Mal rattert der Kameraverschluss meines Nebenmannes, dann rammt er mir seine Ausrüstung in die Weichteile und zieht „Sorry“ murmelnd von dannen.
Wenige Augenblicke später ist die Tribüne fast leer, während eine Karawane zum Grün der 13. Bahn zieht.
Das Masters ist bekanntermaßen eine Veranstaltung von geradezu monumentalem Auswuchs. Doch in diesen Momenten, in denen niemand weiß, ob und wie häufig Tiger Woods hier noch in der Lage sein wird, seine Bahnen zu ziehen, strahlt diese wandelnde Sportikone heller als jeder andere Star am Golf-Firmament, sogar heller als diese größte Bühne im Profigolfsport.
Es gab in der Vergangenheit schon einige Masters ohne Tiger. Und nicht wenige waren herausragende Turniere mit besonderer Dramatik. Jedoch seit Woods Sieg 2019 kann und will sich niemand mehr ein Masters ohne ihn vorstellen.
Nicht zuletzt wegen der Schmerzen, die sein lädierte Bein ihm heute bereitet hat, brachte Tiger nur eine Runde von 74 Schlägen ins Clubhaus, während sich sein Mitspieler Viktor Hovland mit neun Schlägen weniger auf dem Konto über die geteilte Führung freuen konnte.
Tiger Woods: „Heute wäre der Tag gewesen …“
„Heute wäre der Tag gewesen, um einen guten Score zu spielen. Den habe ich nicht genutzt“, analysierte Woods seine Runde in der Pressekonferenz.
Auf seinen Gesundheitszustand angesprochen, antwortete er: „Das Bein fühlt sich entzündet an. Ich hoffe, ich kann mich morgen irgendwie durchbeißen.“
Auch mit seinem Eisenspiel und seinem Putten war er unzufrieden. „Ich habe die Geschwindigkeit der Grüns nicht gut eingeschätzt und mir bei den Annäherungen zu wenige Chancen erarbeitet. Als Konsequenz daraus liege ich über Par.“
Schon heute wurde eine erste offizielle Unwetterwarnung herausgegeben, glücklicherweise blieb es bis auf ein paar vereinzelte Tropfen noch weitestgehend trocken. Doch am morgigen Freitag starten die ersten Paarungen bereits um 7:30 Uhr Ortszeit, denn nach wie vor braut sich am Horizon gewaltiges Ungemach in Form eines massiven Unwetters zusammen.
Mit etwas Glück könnte man es trotzdem morgen schaffen, ohne Gewitterabbruch durch den Tag zu kommen. Die Veranstalter scheinen jedenfalls optimistisch zu sein, ansonsten hätte man die Nachmittagsrunde parallel von Tee 10 gestartet.
Tiger wird also erst zur Mittagszeit seine zweite Runde beginnen, die er hoffentlich am gleichen Tag ins Clubhaus bringt, bevor die Temperaturen um satte 20° Celsius fallen sollen und der Platz komplett absaufen könnte.
Fast 30 Liter Regen pro Quadratmeter werden zwischen Freitagnachmittag und Samstagabend auf den Augusta National niederprasseln.
Wie das Turnier am Sonntag beendet werden soll und ob der Sieger statt eines Green Jacket eine grünen Regenanzug erhält, all das hält die Golfwelt mindestens genauso in Atem wie Tiger Woods.
„Das wird ein wirklich interessanter Turnierabschluss werden“, bemerkte er und ließ an diesem Donnerstag ein seltenes Lächeln über seine Züge huschen.
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